Kommentar zum Artikel von Dr. Christina Berndt „Wer Tiere liebt, sollte sie essen.“ aus der Süddeutschen Zeitung vom 23. April 2022
(Zitate aus dem Artikel sind kursiv gekennzeichnet.)
Schon lange war ich nicht mehr so erzürnt über ein literarisches „Werk“. Das letzte Mal, als ich ähnliche Sympathien gegen den Autor hegte, war zur Schulzeit, als ich Effi Briest von Theodor Fontane lesen musste.
Dieses Mal jedoch kam mein Blut richtig in Wallung. So viele Fragezeichen und What-the-Fuck-Momente hatte ich schon lange nicht mehr. Utopia und einige andere haben den Artikel bereits kommentiert, allerdings andere Facetten in den Vordergrund gestellt. In meinem Kommentar gehe ich vielmehr auf ethische Gesichtspunkte ein.
Der besagte Artikel beschreibt die große Tierliebe in Deutschland. Die Anzahl an Vegetariern und auch Veganern steige immer mehr an. Hier beginnt schon das große „Problem“ des Artikels:
Wenn es nur Veganer gäbe, wäre unsere Welt eine traurige. Denn dann gäbe es ja keine Nutztiere. Wirklich eine traurige Welt, in der man keine Nutztiere streicheln und anschauen könne. Sprich: Keine Tiere zu essen würde bedeuten, dass man keine mehr bräuchte. (Das Wort „Nutztiere“ an sich wäre schon einen ganzen Artikel wert uns sollte meiner Meinung nach aus dem Wortschatz gestrichen werden, genauso wie „Neger“ und andere diskriminierende Wörter.)
WTF-Moment #1:
Die einzige Existenzberechtigung von Nutztieren ist, dass man sie isst.
„Nirgendwo träfe man dann noch auf ein Schaf. (…) (Man) würde (…) an tristen Wiesen vorbeifahren, auf denen Sonnenkollektoren stehen.“
Liebe Frau Berndt, den Zweck eines Tieres nur als Fleischlieferant zu sehen, ist wirklich debil.
Ich lade sie herzlich zu uns an den Billesberger Hof nach Moosinning ein. Wir haben an die 100 Bergschafe, deren Job es ist, unwegsames Gelände abzugrasen. Die kleinen Klauen der Schafe werden übrigens sogar als „Goldener Tritt“ bezeichnet. Ihre Klauen mitsamt Körpergewicht sind schwer genug, um den Boden zu verdichten und so das Wachstum der Flora anzuregen, aber nicht so schwer, als dass sie die Grasnarbe zerstören würden. Wir am Hof sind übrigens kein Exot. Oder haben Sie schon mal jemanden mit Rasenmäher auf einer steilen Alm umherfahren gesehen? Nein, denn Kühe weiden Almen ab.
Und vielleicht schauen Sie auch mal genauer hin, wenn Sie an den Sonnenkollektoren vorbeifahren. Denn unter diesen wächst – oh Wunder!- ebenfalls Gras. Schon mal darüber nachgedacht, wer das abmäht? Genau, Schafe und Ziegen grasen dies zum Beispiel ab.
Kurzum: Tiere sind zu so viel mehr auf dieser Erde, als uns nur unfreiwillig ihr Fleisch zu liefern.
WTF-Moment #2:
Tiere müssen einen ökonomischen Sinn haben. Sei es, dass sie Geld bringen oder man sie essen kann.
Wenn man sich eine Katze anschafft, dann ja wohl, um sie zu melken, oder? Und einen Hund schert man für seine Wolle, richtig? Goldfische und Kanarienvögel schmecken übrigens richtig gut auf dem Grill. Und Leberkäse aus Pferd ist ohnehin der beste.
Klingt komisch, oder? Denn Tier ist doch Tier. Und jedes Tier hat Gefühle, kann Schmerzen erleiden und hat eine Seele. Bei unseren Haustieren würde man nicht im Leben darauf kommen, sie einem Existenzberechtigungs-Check zu unterziehen. Denn sie geben uns viel zurück. Ihre Liebe, Aufmerksamkeit, Geduld und ihr Verständnis für die Rasse Mensch. Warum aber kann das nicht für alle Tierrassen gelten? Schafe sind total verschmust, man kann genauso mit ihnen umherspazieren wie mit einem Hund. Kühe sind zwar nicht so elegant wie Pferde, aber ebenso liebenswert. Und Schweine lieben es genauso gekrault zu werden wie Katzen.
WTF-Moment #3: Wenn man Tiere nicht mehr isst, dann verhindert man ihr ganzes Leben und somit auch ihr Glück.
Denn wenn man Tiere fragen würde, würden sie sich sicherlich für ein „glückliches“ Leben und einen Tod mitsamt anschließendem Aufgegessen- oder Weggeworfenwerden entscheiden.
Hääääähhhhh?!? Sorry, aber ich muss mich kurz übergeben.
Verglichen wurde diese Aussage mit Frauen, die in gewalttätigen Beziehungen leben. Denn diese Frauen würden es – salopp formuliert – vorziehen zu leben und zwischendurch verprügelt zu werden, als gar nicht zu leben. Das setzt dem Ganzen noch die Krone auf. Bitte versteht mich nicht falsch: Flüchtlinge, Kriegsopfer, Gewaltopfer. All diesen Menschen geschieht größtes Unrecht und sie suchen es sich ganz bestimmt nicht aus. Aber das Unrecht an Tieren mit gewalttätigen Beziehungen zu vergleichen und daraus die Rechtfertigung für das Unleid zu folgern, ist echt krank. Für Unrecht an Tieren und Menschen gilt gleichermaßen: Es ist falsch.
Trotzdem: Tiere suchen es sich sicherlich nicht aus. Und Tiere können nicht einfach gehen! Nochmal: Tiere können nicht ins Frauenhaus, Tiere haben keine Anwälte, Tiere können sich nicht selbst ins Krankenhaus schleppen oder die Polizei anrufen. Tiere werden einfach benutzt nach unserem Willen. Kühen wird ihr Kalb nach der Geburt entrissen, egal wie sehr und wie lang beide schreien. Kranke Ferkel werden einfach erschlagen und sind nach dieser Prozedur oftmals nicht tot, sondern laufen in Todesangst quiekend mit heraushängenden Augäpfeln umher. Hühner kanibalisieren sich gegenseitig bis zum Tod, weil sie schwer depressiv sind und nie einen Sonnenstrahl, Grashalm oder einen großen Auslauf erblicken. Und wer jetzt sagt: „Ja aber es geht doch nicht allen Tieren so schlecht“, dem sei gesagt: Doch, der absoluten Mehrzahl der „Nutztiere“ geht es schlecht und sie sind weit entfernt von artgerechter Haltung!
Leid gehört zum Leben teilweise dazu. Aber oft ist es selbst gewähltes Leid und wir Menschen haben es meistens selbst in der Hand. Noch dazu ist bei uns Menschen in den seltensten Fällen das ganze Leben eine einzige Misere. Bei Tieren ist es nicht selbst gewählt und trotzdem von Dauer, so dass oftmals ihr Tod als Erlösung erscheint.
Das schlimme aber ist: Es geht nicht darum, wie sich Tiere entscheiden würden, wenn man sie vor diese Wahl stellen würde. Sondern es geht vielmehr um die viel tiefer gehende Frage: Warum müssen Tiere in diesem Ausmaß und in dieser Grausamkeit überhaupt für uns sterben? Wer gibt uns das Recht, darüber zu entscheiden?
WTF-Moment #4: Man kann Tiere nicht fragen, wie sie das Ganze sehen.
Kurze und schmerzlose Antwort: Doch, kann man.
Die Anzahl an seriösen Tierkommunikatoren und Tierverhaltensspezialisten wird immer größer. Diese sind durchaus in der Lage, die Gedanken- und Gefühlswelt der Tiere auf „Menschisch“ zu übersetzen.
Meine Ausbildung zum Tierkommunikator habe ich bei Laurent Amann gemacht, auch bekannt als der Tierflüsterer. Im Rahmen der Ausbildung und auch danach habe ich viel geübt, vor allem mit unseren Tieren am Hof. Und deren Antworten und vielmehr Weisheiten sind alles andere als trivial. Nur weil sie nicht in der selben Sprache sprechen wie wir, heißt das nicht, dass sie nicht kommunizieren können oder ihr Niveau unter dem unseren ist. Man muss sich schlichtweg die Zeit nehmen, um ihnen zuzuhören. Dass eine „fremde“ und vielen unbekannte Sprache gleichgesetzt wird mit unmündig und unwürdig, ist bezeichnend für unsere Spezies Mensch. So wurden schon indigene Bevölkerungen ihrer Rechte beraubt. Wir Menschen erdreisten uns, diese Frage für sie zu entscheiden!
„Anders als die Würde des Menschen ist die Würde des Nutztieres aber nicht unantastbar. Nur die wenigsten Tiere, darunter Menschenaffen, erreichen Bewusstseinszustände, die ihnen jene Würde und Rechte verleihen.“ – Wer sagt das? Wir Menschen, die diese Gesetze geschrieben haben?
Aha, jetzt muss man schon einen gewissen Bewusstseinszustand erreicht haben, um eigener Rechte würdig zu sein. Und jemand, der im Koma liegt, der kommt auch ins Hackfleisch, oder wie?
Gerne beschriebe ich hier auszugsweise ein paar Gedanken unserer Tiere am Hof:
Beispiel 1) Kater Hathi
„Ihr Menschen seid wie Schauspieler in einem Theater und das Theater nennt ihr euer Leben. Wir (Katzen) sind die Zuschauer. Alles ist so starr, unecht, gehetzt. Seid langsam im Leben und schnell im Spiel. (…) Warum schaut ihr Menschen immer nach unten? Vor Euch ist das Leben, auf der Erde lauft ihr nur. Seid frei, seid spielerisch, seid wild.“
Beispiel 2) Schaf Chantal, die kurz zuvor ihr zu früh geborenes Lamm verloren hatte.
„Ein Kind zeigt dir, was wichtig ist im eigenen Leben. Es ist wie ein Wegweiser. Ein Wegweiser für die eigene Heilung.“
Tiere sind weise. Tiere merken ALLES.
Sie lesen in uns wie in einem Buch. Sie merken, wenn es Artgenossen schlecht geht, wenn ein anderes Tier getötet wird, wenn jemand aus der Herde fehlt. Was denkt ihr, geht in einem Tier vor, das Blut sieht und riecht? Einfacher gefragt: Wie würde es Dir gehen, wenn du Menschenblut siehst und riechst?
WTF-Moment #5: Man isst natürlich nur die Tiere, die unter Mindeststandards leben.
Liebe Frau Berndt, sie schreiben das so, als sei es ein absoluter No-Brainer. Für mich ist das klar und für manche andere auch. Allerdings nicht für den Großteil der Menschheit. Immer wieder werden Tierschutzskandale aufgedeckt. Aber der Mensch an sich ist leider ein bequemes Wesen, das das eigene kurzzeitige Wohlbefinden weitaus höher ansiedelt als das Recht auf ein artgerechtes Leben von Tieren. Diese Aussage ist so ignorant, dass ich gar nicht näher darauf eingehe. Wer an der Wahrheit interessiert ist, dem stehen viele Informationsquellen offen. Die Seite von Peta ist ein guter Startpunkt. Tränen, Trauer und Wut sind übliche Reaktionen auf deren Berichterstattungen.
Und wer jetzt abschließend sagt: „Schön und gut, aber Tiere töten und essen sich doch auch gegenseitig, warum darf ich es dann nicht töten und essen?“ Dem kann ich eins sagen: Ja, du hast Recht. Aber:
Tiere töten andere Tiere, um zu überleben. Lies das nochmal: Tiere töten, um selbst zu überleben!
Nicht wie wir Menschen, die mit Kalkül, oftmals grausam und dauerhaft und aus dem Gedanken töten „Tiere zu essen ist ja so etwas wie mein Grundrecht“.
Tiere töten nur so viel, wie sie brauchen und selbst essen. Oder habt ihr schon mal eine Maus gesehen, die am Tag 50 Mäuse fängt und sie dann liegen lässt, weil sie sich denkt: „Mmmhnöööö, das MHD ist jetzt aber schon fast abgelaufen. Die schmeiß ich doch lieber weg!“ Oder ein Löwe, der nach Tötung einer Antilope sagt: „Hoppala, eigentlich hatte ich ja gar keinen Hunger. Ich war nur frustriert, weil mich meine Löwenfrau gerade so angezickt hat. Naja egal, hat ja eh nur ihr Leben gekostet.“
Der Durchschnittsmensch von heute hat kein Maß und nur wenig Gefühl für das Leid von anderen Wesen. Das „viel-zu-viel“ ist heutzutage das Problem.
Die große Gefahr dieses Artikels liegt meiner Meinung nach nicht darin, dass die Kausalität nicht ganz stimmig ist. Auch nicht, dass überzeugte Veganer sich plötzlich denken könnten: „Shit! Ich tausche mein Sojaschnitzel doch lieber wieder gegen ein Wiener Schnitzel ein, denn sonst gibt es bald gar keine Nutztiere mehr!“ Sondern darin, dass Menschen, die ohnehin nicht viel über ihren Fleischkonsum oder den Konsum von tierischen Produkten nachdenken, sich nun auch noch moralisch gerechtfertigt fühlen, weil sie ja mit ihren Chicken McNuggets oder ihren 99 Cent Schweine-Koteletts die Welt der Nutztiere retten. Vielleicht könnte man ja in der Zukunft über einen Christina-Berndt-Orden nachdenken, der an besonders eifrige Fleischesser verliehen wird. Zur Rettung der Welt der Nutztiere.